Das Praxis-Portrait – oder besser nicht?

Text zur Veranstaltung: Erfahrungen und Fragen aus einer subjektwissenschaftlich begründeten Arbeit [1]

Von Kurt Bader

Das Praxis-Portrait (PP) wurde im Zusammenhang mit den in Berlin stattfindenden Theorie-Praxis-Konferenzen von Klaus Holzkamp und Morus Markard entwickelt und 1989 im Forum Kritische Psychologie veröffentlicht. Als „Leitfaden für die Analyse psychologischer Praxis“ untertitelt umfasst es eine Vielzahl von Fragen, hinter denen theoretische Annahmen und Erfahrungen aus den Theorie-Praxis-Konferenzen stehen und soll nicht ein bloßes Abfragen von Gegebenheiten zum Ziel haben, sondern – „soweit erforderlich“ – die Darlegung dahinter stehender theoretischer Annahmen. (FKP 23, S. 7). Eine dazugehörige „Gebrauchsanleitung“ wurde dem Ganzen vorangestellt. Das PP ist also ein methodischer Versuch, die (psychologische) Praxis auf den Begriff zu bringen.

Kurt Bader und Rolf Krüger nahmen sich –unverfroren – ein einige Jahre zuvor entwickeltes Arbeitspapier aus den Theorie-Praxis-Konferenzen zum Vorbild und veröffentlichten 1984 im Zusammenhang mit einer Tagung zur Sozialen Arbeit in Lüneburg einen Praxisleitfaden für Soziale Arbeit, wobei sie die aus den Konferenzen in Berlin stammenden Fragen erheblich reduzierten und für den Bereich Sozialer Arbeit spezifische Fragen ergänzten (Bader/Krüger 1984). Im Tagungsreader wurden eine Reihe von Praxisberichten veröffentlicht (z.B. von Osterkamp/Beber über die Arbeit in der Familienfürsorge und als Familienhelferin), die zwar unter Bezug auf die vorangestellten Fragen, aber mit deutlichem Abstand zu einer kataloggemäßen Beantwortung von Fragen in sehr überzeugender Weise problematische Konstellationen im Arbeitsfeld darstellten – mit anderen Worten: Durchaus gelungene PPs.

Sieht man einmal von diesen beispielhaften Ausführungen ab, so ist den PP-Frage-Vorschlägen, denen sicherlich das Bemühen unterstellt werden kann, sich relevanten Verhältnissen der Praxis zu nähern, aber gemeinsam, dass sie von außen FÜR Praktikerinnen und Praktiker entworfen wurden. Sie stellen somit Konzepte dar, die einerseits auf einem kritisch-psychologischen Verständnis beruhen, andererseits aber aufgrund ihrer „Außenposition“ subjektwissenschaftlichen Ansprüchen nur unzureichend genügen. Dabei entspricht das PP, verstanden als „Leitfaden“, durchaus den Bedürfnissen vieler Praktiker, die erwarten, ein für die Praxis taugliches Instrument zur Durchleuchtung ihrer Arbeit an die Hand zu bekommen.

So verständlich dieses, aus dem Druck der direkten Praxis, der Kleinmütigkeit der Praktiker hinsichlich „Praxisforschung“ und dem herrschenden neoliberalen Zeitgeist entspringende Bedürfnis ist, so ist daran im wesentlichen zu bemängeln, dass es – bei allem „guten Willen“ – nichts anderes ist, als ein von sich kritisch-psychologisch verstehenden Fachleuten (für Konzepte!) von außen gereichtes Präsent, das auch mit Freude angenommen wird.

Nichts gegen Geschenke, aber subjektwissenschaftlich doch bedenklich, weil nicht MIT den Menschen, sondern FÜR sie entwickelt. Im Vergleich dazu versucht das von uns vertretene Verständnis eines PPs an diesem Manko anzusetzen und es zu reduzieren. Das PP sollte nicht nur ein Instrument in den Händen von Praktikern sein, sondern von diesen auch entwickelt werden. Die einzige „Vorgabe“ dabei besteht darin, dass wir zu entwickelnde FRAGEN – das nach Wilhelmer älteste menschliche Verständigungs- und Erkenntnismittel (vgl. Wilhelmer in Beerlade/Fehre 1989) – als Erkenntnismittel vorschlagen:

Praktikerinnen und Praktiker sind also aufgerufen, ihrer Meinung relevante Fragen an ihre berufliche Tätigkeit zu stellen und zu beantworten. Bei dieseM Versuch, den Blick auf die Praxis zu schärfen, entsteht – so die Hoffnung – zunächst ein deutlicheres Bild der Komplexität des Tätigkeitsfeldes und des je individuellen Umgang damit. Es ist klar, dass dieser Blick je nach individuellem Bezug, Position innerhalb und außerhalb der Institution, fachspezifischer und sozialpolitischer Haltung, nach Dauer und Tiefe der beruflichen Erfahrungen, nach Geschlecht, nach Lebenserfahrung und Perspektive usw. unterschiedlich sein wird. Gleichermaßen kann ein solches subjektives Portrait auch Übereinstimmungen in der Sicht auf die Menschen und Dinge deutlich machen. In jedem Fall ist das PP in einen intersubjektiven Prozess einzubinden – zum einen hinsichtlich der Entwicklung der Fragen, zum anderen in besonderem Maße hinsichtlich ihrer Beantwortung. D.h., dass es wichtig ist, dass die daran Beteiligten sich über ihre Sicht auf die Arbeit wechselseitig und gegenseitig verständigen. Hier von einem Prozess der sozialen Selbstverständigung zu sprechen liegt nahe. Aus diesem Verständigungs- und Erkenntnisprozess können Schritte zur Lösung arbeitspezifischer und institutioneller Probleme entwickelt und letztlich auch – sowohl im Innen- als auch Außenbereich – umgesetzt werden – dies als ein Prozess der (praktischen) Verallgemeinerung theoretischer Lösungsansätze. Selbstverständlich ist es möglich und nützlich, dass die Praktiker dabei Unterstützung erfahren. Es ist aber von zentraler Wichtigkeit, dass es IHR eigenes PP ist und bleibt und nicht von außen durch Besserwisserei „veredelt“ wird.

Das hier vertretene Modell eines PP ist somit ein Instrument, um aus individueller Sicht in einem intersubjektiven Kontext und Verständigungsrahmen zu versuchen, die eigene Praxis auf den Begriff zu bringen und damit die Grundlage für eine kollektive Praxisverbesserung zu schaffen. Das PP zeigt auf Grund angestrebter und stattfindender Veränderungen auch dynamische, sich ständig verändernde Bilder.

Es kann für verschiedene Situationen in der Praxis genutzt werden: zur Vermittlung der institutionellen Verhältnisse an neue Kolleginnen und Kollegen, als Mittel der Qualitätsprüfung und -weiterentwicklung im Rahmen konzeptioneller Überlegungen, als Konzept für Supervision und Beratung, als Gegenstand von Fort.- und Weiterbildungen, für Teambesprechungen, für die Arbeit in therapeutischen Konstellationen usw. Da das PP ein Angebot für alle Beteiligten ist, kann und sollte es gleichermaßen auch in die Hände der Klientel, der PatientInnen usw. gelegt werden. Auf diese Weise kann die in der Regel in den Institutionen angelegte Außensicht der Profis auf die „zu behandelnden“ Subjekte im besten Fall zu gemeinsamen, die Praxis verbessernden Handlungen führen.Auch für das intime Feld der Therapie wären Überlegungen sinnvoll, sich des PPs zu bedienen.

Das hier vorgestellte Konzept eines PP ist somit kein Leitfaden oder Ratgeber von außen, sondern ein Instrument, das in der Praxis von den dort tätigen Menschen entwickelt wird. So wird auf der einen Seite dem nachvollziehbaren Wunsch der Praktiker entsprochen, über ein kritisch-psychologisch begründetes Instrument für ihre Praxis zu verfügen. Auf der anderen Seite scheint dieses Konzept über eine subjektwissenschaftliche Güte zu verfügen, die bei von außen gereichten Leitfragen nicht gegeben ist. Es ist aber nicht zu übersehen, dass die Realisierung eines solchen PP ein mühsamer Prozess ist, der gegen die sich stetig verschlechternden institutionellen Bedingungen – und manchmal auch gegen den eigenen Kopf – erst durchgesetzt werden muss.

Dies aber ist wiederum eine von außen gesetzte Zumutung. Wir von außen bieten den Praktikern eine subjektwissenschaftlich durchdachte „Entwicklungschance“ Wir ahnen zumindest den Druck der Arbeitsverhältnisse und entwickeln dennoch Unterstützungsüberlegungen und -konzepte, die in jedem Fall kurz- und mittelfristig zusätzliche Belastungen bedeuten können. Wir müssen also noch einen Schritt zurück machen und das PP nur als EINE Möglichkeit formulieren, wie die Arbeit weiterentwickelt werden kann. Es liegt letztlich in den Händen der in den Einrichtungen Tätigen, ob und wie sie mit diesen Vorschlägen umgehen wollen und können. Dies wiederum macht aber eine differenzierte Analyse von Lösungsmöglichkeiten notwendig, womit sich die zunächst mit überzeugender Aufrichtigkeit formulierten subjektwissenschaftlich begründeten Überlegungen in den eigenen Schwanz beißen. Es ist schon schwierig genug, subjektwissenschaftlich reflektierte Konzepte am grünen Tisch zu entwickeln. Ihre Implementation in die direkte Praxis scheint noch viel schwieriger zu sein. Aber billiger oder einfacher geht es nicht! Entweder wir lassen uns risikoreich auf einen Versuch der „praktischen Verallgemeinerung“ solcher und ähnlicher Konzepte ein (und lernen dabei eine ganze Menge), oder wir verwässern den Ansatz durch das Einziehen besserwisserischer Außenpositionen, um beim möglichen Scheitern (wer bewertet dies mit welcher Elle?) die „Schuld“ bei den sturen, unreflektierten und angepassten Praktikern – oder den Bedingtheiten und Bedingungen zu suchen. Oder aber wir lassen es gleich bleiben und meiden die schnöde Praxis und formulieren ggf.selbst die Fragen und Antworten FÜR die Praktiker.

Es soll aber hier auch nicht verhehlt werden, dass mit dem Aufsetzen einer solch scharfen „Kategorialbrille“ die Gefahr verbunden ist, maximalistisch – anders formuliert: Normativ – vorzugehen und sich auf diese Weise der mühseligen und mit Rückschlägen und Sackgassen behafteten Praxisforschung zu enthalten.

Aber wie heißt es in der Internationale: „Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun!“

Dieser Versuch, sich auf leisen Sohlen einem subjektwissenschaftlichen Niveau zu nähern und lediglich subjektorientierte Ansätze und ihre Außenposition zu entlarven, soll hier abgebrochen werden in der Hoffnung, dass wir vielleicht gemeinsam einen Weg aus diesen Sackgassen finden….dabei könnte uns die direkte Praxis helfen…

Literatur

Markard, M.u. Holzkamp, K., „Praxis-Portrait“, in: FKP 23, Hamburg 1989

Bader, K. U, Krüger, R., „Sozialarbeit: unbegriffene Theorie – begriffslose Praxis?“, Marburg 1984

Wilhelmer, B., „Fort- und Weiterbildung auf der Suche nach einer Verständigung zwischen wissenschaftlichen Konzepten und berufspraktischen Tätigkeiten“, in: Beerlage, I. u. Fehre, E.-M. Hrsg.), „Praxisforschung zwischen Intuition und Institution“, Tübingen 1989


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